Wir haben die große Ehre heute exklusiv für euch “Der Weihnachtsengel von Altlußheim”, eine bislang unveröffentlichte Weihnachtsgeschichte des bekannten und beliebten Autors Friedbert Stohner, zu veröffentlichen. Friedbert Stohner lebt als Autor und Lektor in Altlußheim am Rhein. Er war viele Jahre im Verlagsgeschäft tätig und hat 1993 das Kinderbuch-Programm bei Hanser mitgegründet, sodass er genau weiß, was Kinder lieben.
Gemeinsam mit seiner Frau Anu übersetzt er außerdem Bücher, aus dem Finnischen und Englischen. Als Autor von Kinder- und Jugendbüchern hat er sich einen Namen gemacht und schon viele Kinder mit seinen Büchern begeistert. Wir danken Ihnen, lieber Herr Stohner, für die Möglichkeit der Erstveröffentlichung ihrer besonderen Weihnachtsgeschichte.
Der Weihnachtsengel von Altlußheim
Viele Menschen kennen das schöne Altlußheim am Rhein, viele aber auch nicht. Ihnen sei gesagt, dass der Ort ein altes Rathaus besitzt, dem man bei Renovierungsarbeiten den Eingang von der Vorder- auf die Rückseite verlegt hat. Die Einheimischen haben sich daran bald gewöhnt; manch Auswärtiger aber lässt sich davon irritieren …
Offen gestanden, sind Engel nicht gerade mein Spezialgebiet. Auch von den Weihnachtsengeln wusste ich bis vor ein paar Jahren am späten Heiligabend nur, dass sie es waren, die den Hirten auf dem Felde die frohe Botschaft von der Geburt des Heilands verkündeten. Ich hatte sie mir immer aus vollem Halse singend vorgestellt, obwohl im Lukasevangelium ja nur vom „Loben“ und „Sprechen“ die Rede ist. Inzwischen bin ich mir ziemlich sicher, dass Lukas wusste, was er für die Nachwelt niederschrieb. Jedenfalls hat der Weihnachtsengel, dem ich hier in Altlußheim begegnet bin, nicht gesungen. Er hatte auch nicht das, was man sich für gewöhnlich unter einer Engelsstimme vorstellt. Er klang eher wie der schon etwas müde ältere Herr, der er auf den ersten Blick zu sein schien.
Aber vielleicht beginne ich besser von vorn. Es war, wie schon erwähnt, an einem späten Heiligabend, als ich nach einer fetten Gans mit Rotkohl und Klößen einen Verdauungsspaziergang machte. Es ist die sogenannte Weihnachtsgans in meiner Familie noch immer Sitte, obwohl sie mir jedes Jahr schwerer im Magen liegt. Ich verließ unser Haus am Ende der Ludwigstraße, ging durch die Beethovenstraße zur Rheinhäuser Straße und bog dort ab in Richtung Ortsmitte.
Schon am frühen Abend hatte es zu schneien begonnen, und es schneite immer noch. Häuser und Straßen lagen so wunderbar weiß wattiert, wie wir es heutzutage leider nur noch selten sehen. Allerdings wehte vom Niederdorf herauf ein böiger Wind. Im dicken langen Wintermantel, mit einer Mütze auf dem Kopf und gefütterten Stiefeln an den Füßen fror ich zwar nicht, aber ohne die fette Gans – und die Klöße! – hätte ich vielleicht doch beim alten Pfarrhaus wieder kehrtgemacht.
So stapfte ich durch den knirschenden Schnee und sah den Weihnachtsengel schon von weitem. Er kam von der Kirche her, und wir trafen uns vorm Obsthof Schmidt, genauer gesagt, vor dem Häuschen mit dem Automaten, an dem man rund um die Uhr dringende Lebensmittel erwerben kann und den meine Frau und ich nur den „Leberwurstautomaten“ nennen. Ganz ehrlich: Hätte der Engel mich nicht angesprochen, hätte ich ihn, wie oben angedeutet, für einen älteren Herrn gehalten. Gewiss, da waren seine Locken, aber die wachsen auch auf ganz normalen Männerköpfen, und ein wenig gelichtet erschienen sie mir obendrein. Ich weiß noch, was ich dachte, als er die Peterstraße überquerte: ‚Längst Großvater, aber immer noch zu eitel, eine Mütze aufzusetzen!‘ Auch dass er ein bis zum Boden reichendes Engelsgewand trug, wäre mir nicht unbedingt aufgefallen, denn viel anders als mein weiß gepuderter langer Wintermantel sah das himmlische Kleidungsstück auch nicht aus.
„Entschuldigung“, sagte er mit der etwas müden Stimme, von der ich schon berichtet habe. „Das große Gebäude da hinten neben der Kirche ist doch das Rathaus?“
Erst jetzt, als er mir halb den Rücken zukehrte, um mit dem ausgestreckten Arm aufs Rathaus zu zeigen, sah ich seine Flügel. Der Engel selbst war etwa so groß wie ich, knapp einen Meter achtzig, dafür erschienen mir seine Flügel fast ein bisschen klein.
„Die Bilder, die ihr Menschen euch von uns Himmlischen macht, stimmen immer nur ungefähr“, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen. „Aber ich habe mich noch gar nicht vorgestellt – Karl-Heinz mein Name. Ich bin Weihnachtsengel.“
Er lächelte freundlich, und mir klappte die Kinnlade herunter. Ich meine, vor dem Schmidt’schen Leberwurstautomaten hatte ich schon manchen seltsamen Vogel gesehen, aber doch noch nie einen Engel!
„Ei… Weih…?“ war alles, was ich mit meiner störrischen Kinnlade herausbrachte, aber der Engel schien mich zu verstehen.
„Ein Weihnachtsengel, richtig“, wiederholte er unverändert freundlich lächelnd.
Ich nehme an, es war das Lächeln, das Engel immer aufsetzen, wenn sie es mit Menschen zu tun bekommen, die nicht glauben können, was sie hören oder sehen. Tatsächlich hatte das Engelslächeln etwas Beruhigendes.
„Und was machen Sie hier?“, fragte ich. „Wollen Sie Leberwurst kaufen?“
Ich konnte wieder sprechen, aber offenbar noch keinen vernünftigen Gedanken fassen. Jedenfalls hatte ich eine derart grottendämliche Frage in meinem ganzen Leben noch nicht gestellt. Dass der Engel mir darauf antwortete, rechne ich ihm bis heute hoch an.
„Nein“, sagte er mit einem Kopfschütteln, bei dem sich ein Wölkchen Schnee aus seinen lichten Locken löste. „Wir Himmlischen haben andere Vorlieben.“
„Manna, verstehe“, sagte ich, damit er sah, dass ich nicht ganz der Hornochse war, als der ich mich gerade aufgeführt hatte.
„Zum Beispiel“, entgegnete er. „Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich bin hier, um in Ihrem schönen Altlußheim nach dem Rechten zu sehen. Das tue ich alle 33 Menschenjahre zur Weihnachtszeit – Sie wissen wahrscheinlich, dass 33 Ihrer Menschenjahre genau einem Engelsjahr entsprechen.“
„Nein“, sagte ich.
„Doch“, sagte er. „33 Menschenjahre sind genau ein Engelsjahr, das können Sie mir glauben.“
„Ich glaube Ihnen aufs Wort“, sagte ich. „Was ich sagen wollte, war, dass ich das mit der Umrechnung nicht wusste.“
„Sie hatten noch nicht viel mit Engeln zu tun, stimmt’s?“, fragte er freundlich.
„Nein“, gab ich zu.
„In solchen Fällen raten wir zum Beten“, sagte der Engel, und ich weiß, es klingt verdächtig nach einer Weihnachtsgeschichte von der zuckrigen Sorte, aber für einen Augenblick war mir, als sähe ich um den Kopf mit den beschneiten lichten Locken einen kleinen goldenen Schein.
„Aber bitte“, fuhr der Engel fort, „das mit dem Beten ist nur ein Vorschlag, und es hat damit auch keine Eile. – Wo waren wir noch mal stehen geblieben?“
„Dabei, dass Sie hier sind, um nach dem Rechten zu sehen“, antwortete ich.
„Richtig“, sagte er. „Das ist mein Auftrag. Mein Job, wie ihr in der Menschensprache sagt. Ich bin gekommen, um mich zu vergewissern, dass ihr in eurem schönen Dorf so Weihnachten feiert, wie es unserem Herrgott im Himmel gefällt: dass ihr Plätzchen backt und die alten Lieder singt, dass ihr den Kindern nicht zu wenige, aber auch nicht zu viele Geschenke und bitte keinen dummen Mistkram kauft, dass ihr alle freundlich und friedlich miteinander umgeht – und was unserem alten Herrn im Himmel besonders wichtig ist: dass es bei der Weihnachtsfeier für die Älteren in der Gemeinde nicht zu dünnen Kaffee und genügend leckeren Kuchen gibt. Auf all das legt unser Herrgott großen Wert, und ich kann sagen, dass mir, was ich in Altlußheim gesehen habe, ausnehmend gut gefallen …“
So weit war der Weihnachtsengel, als ihn eine besonders heftige Windbö vom Niederdorf her packte und rückwärts bis über die Peterstraße blies. Hätte ich zu dem Zeitpunkt noch gezweifelt, dass es sich wirklich um einen Engel handelte, wäre ich spätestens jetzt überzeugt gewesen, denn ich sah ihn eindeutig schweben. Es wehte den Armen bis zum Fußgängerüberweg vorm Kindergarten, wo er sich an die Ampel klammerte, bis die Windbö nur noch ein harmloser Wirbel Schnee vorm Gasthaus Hirsch war. Ich selbst war so erschrocken, dass ich dem Engel jetzt erst hinterherging, aber als ich ihn erreichte, konnte er schon wieder lächeln.
„Um auf meine Eingangsfrage zurückzukommen …“, sagte er und zeigte, einen Arm noch immer um den Ampelmast geschlungen, über die Schulter.
„Ja, das ist das Rathaus“, bestätigte ich ihm. „Warum fragen Sie?“
„Es hat keinen Eingang mehr“, sagte er. „Ich bin, wie gesagt, nicht zum ersten Mal hier und weiß bestimmt, dass es früher einen hatte. – Sehen Sie …“ Bei diesen Worten fasste er in eine der unsichtbaren Taschen, die Engelsgewänder offenbar besitzen, und holte einen winzigen goldenen Schlüssel heraus. „… das hier ist der himmlische Generalschlüssel, mit dem ich beim letzten Besuch noch problemlos hineinkam.“
Jetzt war zur Abwechslung ich es, der lächelte.
„Das Rathaus wurde umgebaut. Der Eingang ist jetzt auf der anderen Seite“, sagte ich.
„Sie meinen hinten?“, fragte der Engel mit einem Blick, aus dem mir eine leichte Verwirrung zu sprechen schien.
Ich überlegte, wie man es einem Ortsfremden am besten erklärte, und entschied mich dann für die Formulierung, dass im umgebauten Altlußheimer Rathaus hinten das neue Vorne sei und umgekehrt.
„Gut“, sagte er nach einem längeren Stirnrunzeln. „So kann man sich’s merken.“
„Und darf ich fragen, was Sie als Weihnachtsengel im Rathaus wollen?“
Es ging mich im Grunde nichts an, aber ich bin ein neugieriger Mensch und konnte mir die Frage nicht verkneifen. Der Engel gab mir auch bereitwillig Antwort: Er wolle auch bei der Gemeindeverwaltung nach dem Rechten sehen, erklärte er mir. Das zähle zwar nicht direkt zu seinen Aufgaben als Weihnachtsengel, aber ein paar seiner himmlischen Kollegen wachse die Arbeit über den Kopf, die hätten ihn darum gebeten: der Gebühren- und Abgabenengel zum Beispiel. Auch der Bürgermeister-, der Bürgermeistersekretärinnen- und der Bürgermeisterstellvertreterengel, wenn ich mich recht entsinne. Alle konnte ich sie mir beim besten Willen nicht merken. Bis dahin hatte ich ja nicht mal gewusst, dass es solche Engel überhaupt gibt. Jetzt weiß ich’s und finde es beruhigend, dass wir Bürgerinnen und Bürger nicht allein auf unsere Verwaltung aufpassen müssen.
„Dann mal noch schöne Feiertage auf dem Amt!“, rief ich dem Engel nach, als er sich, ohne die geringste Spur im frisch gefallenen Schnee zu hinterlassen, in Richtung Rathaus entfernte.
„Eine halbe Stunde höchstens!“, rief er immer noch hörbar müde, aber fast schon frohlockend zurück. „Sie erinnern sich: Wir Engel sind schnell!“
Ich wartete, bis er an der Schulstraße um die Ecke geschwebt war, dann machte ich mich durch die Peterstraße auf den Heimweg. Als ich in die Ludwigstraße einbog, schlug es vom Kirchturm Mitternacht, und während ich mit gesenktem Kopf gegen ein immer heftiger werdendes Schneetreiben anging, überlegte ich mir schon, wer um alles in der Welt mir diese Geschichte glauben sollte.
Meine Frau schon mal nicht. Sie führt ins Feld, dass ich die angeblich fette, in Wahrheit aber ausgesprochen magere Weihnachtsgans nicht erst mit einem späten Spaziergang, sondern schon zuvor mit mehreren Gläsern 1975er Clos du Roi bekämpft hätte. Ihr Kommentar zur Geschichte als solcher lautet kurz und schmerzlos: „Wer’s glaubt …“ Für das mit Abstand Unglaubwürdigste hält sie übrigens den Namen des Engels. Der allein sei schon ein sicherer Beleg dafür, dass die Geschichte ausschließlich meiner von altem Burgunder befeuerten Phantasie entsprungen sein müsse. Als wäre ich jemals von allein auf die Idee gekommen, dass ein Engel ausgerechnet Karl-Heinz heißen könnte wie mein Mutterstadter Cousin!
Alla gud, wie wir Altlußheimer sagen. Dass Engel sich nicht beweisen lassen, ist nicht zu ändern. Was mich persönlich betrifft, so vergeht in der Weihnachtszeit kein Abend, an dem ich nicht unauffällig am Leberwurstautomaten in der Rheinhäuser Straße vorbeischaue. Ich bin „meinem“ Engel, wie ich ihn insgeheim nenne, noch nicht wieder begegnet, aber ich rechne fest damit. Gelegentlich ertappe ich mich sogar dabei, dass ich mit ihm rede. Das nennt man dann wohl beten.
Uli A. zum Gedächtnis. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn er nicht irgendwo bei den Engeln säße.
Hier findet ihr ein Interview, was ich mit Friedbert Stohner und seiner Frau Anu führen durfte. Im Rahmen von BARRIO Video haben wir eine Autor*Innenlesung von Herrn Stohner für euch veröffentlicht. Und mehr zu seinen Büchern lest ihr hier.
Beitragsfoto: Von Tina Bourshutterstock.com