BARRIO hatte die Chance in einem Interview mehr zu dem hochbrisanten Thema Burn on zu erfahren. Es betrifft oft uns Eltern, die wir in einer ständigen Doppelbelastung leben.
Die Fragen beantwortet uns der Autor und Dipl.-Psych. Timo Schiele, Leitender Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen.
Wie wird der Burn On diagnostiziert und sind die Ärzte damit überhaupt schon vertraut?
Burn On ist ein neuartiges und bislang unerforschtes Krankheitsbild, er wurde noch nicht, so wie zum Beispiel der Burn Out, aufgenommen in die Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) der WHO.
Im Burn On zu sein bedeutet, permanent unter Spannung zwischen zwei Polen zu stehen: Wenn einem eigentlich immer alles zu viel wird und man trotzdem irgendwie einfach weiter „funktioniert“. Wir erklären diesen Zustand gerne mit einem Bild: Stellen Sie sich einen Kunstturner vor, der vor Ihnen mit einem gequälten Lächeln stolz in einen scheinbar mühelosen und doch schmerzhaften Spagat geht, und der nicht bemerkt, wie der Boden unter seinen Beinen rissig wird, bis sich ein Abgrund unter ihm auftut. Mit unglaublicher Kraft muss er immer weiter für die nötige Anspannung sorgen, um nicht in die Tiefe zu fallen. Und genau dieser brennende Spagat wird zum Dauerzustand, zum Burn On.
Wie kann man Burn Out und Burn On voneinander abgrenzen?
Im Falle eines Burn Out leiden Betroffene unter einer überwältigenden Kraft- und Energielosigkeit. Sie fühlen sich „zu nichts mehr in der Lage“. Es entsteht auch ein regelrechter innerer Widerwille gegen die eigene Tätigkeit, weil es kaum mehr Erfolgserlebnisse gibt. Verschlimmert sich der Zustand, weil er nicht erkannt wird oder Hilfe ausbleibt, führt der Burn Out als akute Erschöpfungsdepression zum psychischen Zusammenbruch.
Und genau dieser Zusammenbruch passiert beim Burn On nicht: Bei dieser Form der chronischen Erschöpfungsdepression „funktionieren“ die Betroffenen weiter, sie versuchen, die Belastungsgrenze immer weiter nach oben zu verschieben – aus Angst vor dem persönlichen Crash. Gleichzeitig fühlen sie sich innerlich leer, unglücklich und getrieben. Sie sehnen sich nach einer Veränderung.
Sind Eltern, die einer permanenten Doppelbelastung von Beruf und Familie ausgesetzt sind, besonders gefährdet?
Aus unserer Sicht ja. Mütter und Väter können sich im Falle von Krankheit oder Erschöpfung für Ihre Verantwortung als Eltern nicht krankschreiben lassen und fernbleiben, so wie das am Arbeitsplatz geht. Die Herausforderung, zeitliche und räumliche Inseln zu gestalten, auf denen es nur um sie und ihre eigenen Bedürfnisse geht, ist ungleich größer als bei Menschen ohne Kinder.
Ich erinnere mich gut an einen Mann, den wir in unserer Klinik aufgenommen haben, als er sich in einer veritablen psychischen Lebenskrise befunden hat. Er war erschöpft, erklärte aber: „Im Außen performe ich immer noch“. Zu Hause prokrastiniere er, bekomme nichts mehr hin und mit. Er habe immer geglaubt, dass es nicht anders ginge, als sich zwischen Arbeit und Familie aufzuteilen und aufzuopfern und alles irgendwie unter einen Hut zu bekommen. Alles fühle sich inzwischen wie eine Verpflichtung an, auch die Dinge, die er immer genossen habe. Er fühle sich mehr und mehr wie eine leere Hülle, die inzwischen jedoch ohne eigenen Inhalt völlig fremdgesteuert und automatisiert funktionierend durchs Leben geht. Eigentlich habe er immer den Eindruck gehabt, dass er das gut hinbekommen habe. Heute bemerke er, dass er das infrage stellen müsse und einen immensen Preis dafür gezahlt habe. Entfremdet von den Dingen, die ihn früher einmal ausgemacht hatten, entfremdet von sich selbst, blickt er auf sein Leben, und er beschreibt weiter: Es sei nicht so, dass er nicht auch für Dinge dankbar sein könne. Er habe eine großartige Frau und großartige Kinder, fühle sich geliebt und geschätzt. Dennoch frage er sich wieder und wieder, wie es habe kommen können, dass er zur Aufrechterhaltung seines Funktionierens auch die Ressourcen seiner Familie „angezapft“ hatte.
Inwieweit müssen wir als Gesellschaft umdenken, um Syndromen wie dem Burn On vorzubeugen?
Psychisches Wohlbefinden sollte uns alle angehen. Psychische Erkrankungen können jeden treffen, ob alt, ob jung, ob Mann, ob Frau. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir in psychischen Krisen oder bei psychischen Belastungen immer nur auf die Betroffenen schauen. Dass sie eine Herausforderung oder Krisensituation „nicht gesund“ bewältigen, hat in den meisten Fällen viele Gründe. Problematisch finde ich, wenn eine psychische Erkrankung als Scheitern der Betroffenen aufgefasst wird und vergessen wird, dass viele Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten oder von Armut bedroht sind, usw. Prävention ist daher immer eine Aufgabe aller, also der Einzelnen wie auch der Gesellschaft.
Den 2. Teil dieses hochinteressanten Interviews lest ihr bei uns am Sonntag, den 29. August.