Einen Tag lang zu allem „Ja“ sagen, was das Kind möchte? Für die einen ist die Idee des „Yes-Day“ ein lustiges Experiment, für die anderen die ultimative Kinder-Anarchie. Kann das überhaupt funktionieren? Ein Erfahrungsbericht.
Was ist bitte ein „Yes-Day“?
Die Schule ist aber auch wieder zu gar nichts gut. Jetzt hat unsere Tochter gelernt, dass es bei Freundinnen von ihr regelmäßig einen sogenannten „Yes-Day“ gibt. Die Regeln klingen einfach und hart zugleich: Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang (cleverer Cheat-Code, liebe befreundete Eltern) sagen die Großen zu allem „Ja!“, was ihre Kinder vorschlagen. Meine Tochter will das jetzt auch. Endlich, endlich, sagt sie sinngemäß, würde sie das Eltern-Joch abstreifen und nur das tun, was sie will, den ganzen Tag lang.
Wie viele Regeln gibt es?
Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich der Yes-Day unserer Freunde allerdings als weitaus unfreier als gedacht. Neben der Einschränkung „von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang“, auf die sich unsere Tochter natürlich nicht einlässt (wäre ja schön blöd, die drei Stunden bis zum Schlafengehen zu verschenken), kommen mehr und mehr Regeln ans Licht, als da wären:
- Es gibt eine genau festgelegte Menge Süßigkeiten und ein fixes Budget
- Alles muss sicher sein
- Keine Technik außer Musik und für Karten.
Wir haben ein Problem
Wir haben da ein Problem. Wir leben unerzogen und bedürfnisorientiert mit unserer Tochter. Das heißt, wir haben Süßigkeiten freigegeben und finden eigentlich immer einen Weg, ihre Wünsche so möglich zu machen, dass sie sich gehört fühlt. Aufregende Glitzerspielzeuge landen beispielsweise auf einer Weihnachtswunschliste, von der wir dann im Dezember gemeinsam auswählen. Medien wie das Tablet haben wir schon mit ungefähr zwei Jahren freigegeben. Keine Technik ist also auch keine Regel, die bei uns Sinn ergibt. Unser Kind geht ins Bett, wenn es müde ist, da müssen wir also auch keine Ausnahmen machen. Und Sicherheit empfinde ich nicht als Regel, sondern als Selbstverständlichkeit.
Unsere Freunde sind am Ende des ihres Ja-Tages jedenfalls sehr erschöpft, kunterbunt angemalt und ungefähr 15 Stunden im Pool beschäftigt. Solche Tage haben wir hier auch – aber ehrlich gesagt sind sie eher unser Alltag als die Ausnahme. Was bleibt also noch übrig vom Yes-Day, dass wir nicht ohnehin schon machen?
Was bleibt vom Yes-Day, wenn jeder Tag Yes-Day ist?
Oder anders gesagt: Was bleibt vom Yes-Day, wenn jeder Tag Yes-Day ist? Unsere Tochter kichert. Na, das kann ja heiter werden. Der Tag beginnt mit bangen Vorahnungen. Die Vorahnungen bleiben genau das: Vorahnungen. Nichts passiert. Es ist ruhig im Zimmer. Unser Kind schaut einen Film, bittet um etwas zu Essen. Später spielt sie selbstvergessen und ruhig unten im Garten. Meine Frau und ich schauen uns an: Gleich kommt es, das große Desaster! Aber, nichts. Unsere Tochter ist ruhiger und gelassener als sonst. Fast habe ich das Gefühl, als würde sie uns ignorieren. Bereitet sie heimlich eine große Yes-Day-Katastrophe vor? Müssen wir ein mehrstündiges Musical aufführen oder ihr Zimmer lila streichen? Es bleibt weiter ruhig. Langsam haben wir Angst.
Hat sich das wirklich gelohnt?
Kurz vor der Schlafenszeit halte ich es nicht mehr aus. Und, frage ich sie, hat sich das gelohnt heute? Sie antwortet, mit strahlenden Augen: Ja! Endlich haben wir ihr nicht reingeredet! Sie kann tun und lassen, was sie will! Der beste Tag überhaupt! Bitte bald wieder! Auf meine irritierte Nachfrage, was denn heute bitte anders gewesen sein soll als sonst, meint sie nur: Ich konnte endlich mal das machen, was ich will!
Manchmal ist Freiheit eher das Gefühl von Freiheit als der Wunsch, sie auszuleben, vor allem, wenn die Bedürfnisse aller Familienmitglieder im Alltag berücksichtigt werden. Ich hätte vom Yes-Day jedenfalls alles erwartet – aber nicht, dass es einer der gemütlichsten Tage wird seit langem.
Olaf Bernstein schreibt für Barrio zu allen großen und kleinen Themen des Elternalltags. Weitere Gedanken findet ihr auf seinem Blog, bei Instagram oder bei Twitter.